18. Januar 2013
Verfassungsmäßigkeit der gewerbesteuerlichen Mindestbesteuerung Notwendigkeit für Billigkeitsmaßnahmen

Bundesministerium der Finanzen
Herrn MD Michael Sell
Leiter der Steuerabteilung
11016 Berlin

 

Sehr geehrter Herr Sell,

der Bundesfinanzhof hat sich in einer Reihe von Entscheidungen mit der Mindestbesteuerung befasst. Während er in einem Verfahren über die Aussetzung der Vollziehung (I B 49/10, Beschluss vom 26.8.2010) zur Einkommensteuer noch ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Einschränkung der Verlustverrechnung in solchen Fällen hatte, in denen eine Verrechnung der Verluste in den Folgejahren endgültig ausgeschlossen sei, hat er sich im Herbst 2012 mit Entscheidungen vom 22.8.2012 (I R 9/11) und 20.9.2012 (IV R 29/10, IV R 36/10, IV R 43/10 und IV R 60/11) vornehmlich zur Gewerbesteuer zu einem konzeptionell neuen Ansatz entschlossen.

Der Bundesfinanzhof geht in den vorbezeichneten Entscheidungen davon aus, dass die Mindestbesteuerung des § 10 a GewStG noch im Rahmen der verfassungsrechtlich anerkannten Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers liege. Der Gesetzgeber habe auf die bei der öffentlichen Anhörung im deutschen Bundestag bezeichneten erkennbaren Fälle der verfassungswidrigen Übermaßbesteuerung wie dort sachverständig vorgeschlagen sowohl durch eine Erhöhung der jedes Jahr abzugsfähigen Beträge als auch durch eine Erhöhung der Abzugsquote bezüglich der nicht ausgenutzten Verlustvorträge reagiert. Er habe für die kaum ermittelbaren verbleibenden Fälle von Verfassungs wegen darauf vertrauen dürfen, dass die Finanzverwaltung von der Möglichkeit der abweichenden Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen (§ 163 AO) für diese Sonderfälle Gebrauch machen werde. Nur hierdurch, also die Möglichkeit, der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit in geeigneten Fällen durch die abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen Raum zu schaffen, sei die gesetzliche Regelung verfassungskonform (vgl. Pressemitteilung Nummer 83 vom 5.12.2012). Diese Auffassung wird explizit bereits in der Entscheidung vom 20.9.2012 (IV R 36/10) herausgearbeitet. Der BFH führt in dieser Entscheidung zunächst zur Typisierungsbefugnis wie folgt aus (Rn. 27): „Ist vorhersehbar, dass in Ausnahmefällen besondere Härten auftreten können, die nicht in zumutbarer Weise durch gesetzliche Sonderregelungen vermeidbar sind, steht dies der Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers nicht entgegen, wenn für deren Behebung im Einzelfall Billigkeitsmaßnahmen zur Verfügung stehen.“. In Rn. 57 der Entscheidung konkretisiert der BFH dann seine Ansicht bzgl. der Verluststreckung und der damit verbundenen steuerlichen Folgen: „Unter diesen Umständen durfte der Gesetzgeber sich darauf verlassen, dass […], die allein von der durch die Verluststreckung ausgelösten Definitivbelastung herrühren, durch Billigkeitsmaßnahmen vermieden werden können.

Damit stellt sich der Bundesfinanzhof sehr deutlich der im Verfahren IV R 29/10 geäußerten Ansicht des dem Verfahren beigetretenen BMF entgegen, wonach die Verwaltung zu einer gesetzeskorrigierenden Anwendung der Billigkeitsregelungen nicht befugt sei. Nach Ansicht des BFH ist das Gegenteil der Fall. Aus seiner Sicht ist das Ermessen der Finanzbehörden bzgl. der Entscheidung, ob die Steuern gem. § 163 AO abweichend festgesetzt werden, in diesen Fällen auf Null reduziert. Dies hat zur Folge, dass der BFH „durchentscheiden“ kann. In der Praxis wird es darauf hinaus laufen, dass der BFH in Fällen, in denen er eine Unbilligkeit annimmt, den Rechtsstreit entweder selbst entscheiden kann oder, wenn die Zahlen nicht klar sind – unter der Maßgabe, die Ansicht des BFH zu berücksichtigen – an das FG zurückverweisen wird. Dies wird regelmäßig zur Folge haben, dass – aufgrund dessen, dass es sich um eine Ermessensreduzierung auf Null handelt – das FG die Finanzbehörde daraufhin anweist, eine Billigkeitsmaßnahme gem. § 163 AO zu erlassen.

Dem Bundesverband der Steuerberater e.V. ist durch seine Mitglieder bekannt geworden, dass die Finanzverwaltung der eindeutigen Spruchpraxis des Bundesfinanzhofes bezüglich zwingend notwendiger Billigkeitsmaßnahmen im Rahmen der abweichenden Steuerfestsetzung nach § 163 AO in den vom BFH gesehenen Fallgruppen nicht nachkommt. Der Bundesverband appelliert nachhaltig an das Bundesministerium der Finanzen sich unverzüglich dafür einzusetzen, hier einen verfassungskonformen Gesetzesvollzug sicherzustellen. Führt das vor Einführung der Mindestbesteuerung betriebene Geschäftskonzept des Steuerpflichtigen dazu, dass bei ihm Verluste entstanden sind, die in späteren Jahren zur Anwendung der Mindestbesteuerung führen und war das Geschäftskonzept von Anfang an zeitlich beschränkt angelegt (z. B. Objektgesellschaften, Arbeitsgemeinschaften) so ist die Finanzverwaltung nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes verpflichtet, die Verlustverrechnung durch abweichende Steuerfestsetzungsmaßnahmen zu ermöglichen. Nur weil nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes eine solche rein sachliche Billigkeitsmaßnahme (ohne Prüfung persönlicher Umstände) realistisch zu erwarten sei, konnte der Bundesfinanzhof zu der Beurteilung der Verfassungskonformität der zu Grunde liegenden Norm kommen.

Die Notwendigkeit eines entsprechenden BMF-Schreibens ergibt sich aus vier Gesichtspunkten. Erstens gebietet es der Respekt vor dem BFH, die von ihm in der neuen Rechtsprechung geäußerte Erwartungshaltung nicht zu enttäuschen. Zweitens: würde -wie entsprechend der Einschätzung des BMF im Verfahren IV R 29/10 zu befürchten- von der den Gesetzeswortlaut korrigierende Billigkeitsmaßnahme kein Gebrauch gemacht, müsste der Bundesfinanzhof zur Beurteilung des Gesetzes als verfassungswidrig kommen. Hiermit ist letztlich weder der Finanzverwaltung noch den auf die Einnahmeglättung durch die Mindestbesteuerung setzenden Kommunen noch den Steuerpflichtigen gedient. Eine flächendeckende Anwendung dieser Rechtsprechung ist jedoch nur zu erwarten, wenn der BMF in einem entsprechenden Erlass die mehrfach auftretenden Fälle zusammenfasst und die Finanzbehörden in Abstimmung mit den Ländern anweist, in diesen Fällen wie vorgegeben, darüber hinaus im Einzelfall entsprechend der sachlichen Billigkeit zu verfahren. Drittens ist nur auf diesem Wege das Mindestmaß erforderlicher Rechtssicherheit für den Rechtsanwender zu erreichen. Viertens sind die Finanzverwaltungen gem. § 85 AO verpflichtet, sicherzustellen, dass Steuern nicht zu Unrecht erhoben würden. Dies wäre jedoch der Fall, wenn trotz bestehender Unbilligkeit, die nur wegen der Abweichungsverpflichtung der Finanzverwaltung von einem im Einzelfall verfassungswidrig wirkenden Gesetz einen verfassungskonformen Zustand nicht durch die Möglichkeit der Anwendung des § 163 AO herstellen würde. Unterließe sie diese Detailkorrektur, würde sie gegen den Grundsatz der Bindung an Recht und Gesetz verstoßen.

Der Bundesverband der Steuerberater e.V. bittet daher das Bundesfinanzministerium, einen allgemeinen Billigkeitserlass unverzüglich auf den Weg zu bringen. Hierin sind die Finanzämter anzuweisen, entsprechend den vorbezeichneten Urteilen vom 22.8.2012 und vom 20.9.2012 die Mindestbesteuerung in Fällen des sonst endgültigen Scheiterns einer vollen Verlustverrechnung in dem Umfang nicht anzuwenden, wie dies erforderlich ist, um eine Übermaßbesteuerung im Einzelfall zu vermeiden.

Für die Unterstützung bei der Formulierung steht der Bundesverband der Steuerberater gerne zur Verfügung.

 

Mit freundlichen Grüßen

 

 

Für den Bundesverband der Steuerberater e.V

StB RA Prof. Dr. Jochen Lüdicke, Präsident